| 156. Dies wird klarer
werden, wenn wir die Betrachtung eines – 107
– andern Wortes einschalten, nämlich des
Wortes “lesen”. Zuerst
muß ich bemerken, daß ich zum ‘Lesen’, in
dieser Betrachtung, nicht das Verstehen des Sinns des Gelesenen
rechne; sondern Lesen ist hier die Tätigkeit, Geschriebenes
oder Gedrucktes in Laute umzusetzen; auch aber, nach Diktat zu
schreiben, Gedrucktes abzuschreiben, nach Noten zu spielen und
dergleichen. Der Gebrauch dieses Wortes unter den Umständen unsres gewöhnlichen Lebens ist uns natürlich ungemein wohl bekannt. Die Rolle aber, die das Wort in unserm Leben spielt, und damit das Sprachspiel, in dem wir es verwenden, wäre schwer auch nur in groben Zügen darzustellen. Ein Mensch, sagen wir ein Deutscher, ist in der Schule, oder zu Hause, durch eine der bei uns üblichen Unterrichtsarten gegangen, er hat in diesem Unterricht seine Muttersprache lesen gelernt. Später liest er Bücher, Briefe, die Zeitung u.a.. Was geht nun vor sich, wenn er, z.B., die Zeitung liest? ‒ ‒ Seine Augen gleiten – wie wir sagen – den gedruckten Wörtern entlang, er spricht sie laut aus, – oder sagt sie nur zu sich selbst; und zwar gewisse Wörter, indem er ihre Druckform als Ganzes erfaßt, andere, nachdem sein Aug die ersten Silben erfaßt hat,
– 108
– Er kann auf das achten, was er liest,
oder auch – wie wir sagen könnten – als bloße
Lesemaschine funktionieren, ich meine, laut und richtig lesen, ohne
auf das, was er liest, zu achten; vielleicht während seine
Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes gerichtet ist (sodaß er
nicht imstande ist, zu sagen, was er gelesen hat, wenn man ihn
gleich darauf fr[ä|a]gt).
– Vergleiche nun mit diesem Leser einen
Anfänger. Er liest die Wörter, indem er sie
mühsam buchstabiert. – Einige Wörter aber
errät er aus dem Zusammenhang; oder er weiß das
Lesestück vielleicht zum Teil schon auswendig. Der
Lehrer sagt dann, daß er die Wörter nicht wirklich
liest (und in gewissen Fällen, daß er nur
vorgibt, sie zu lesen). Wenn wir an dieses Lesen, an das Lesen des Anfängers, denken und uns fragen, worin Lesen besteht, werden wir geneigt sein, zu sagen: es sei eine besondere bewußte geistige Tätigkeit. Wir sagen von dem Schüler auch: “Nur er weiß natürlich, ob er wirklich liest, oder die Worte bloß auswendig sagt.” (Über diese Sätze “Nur er weiß, …” muß noch geredet werden.) Ich will aber sagen: Wir müssen zugeben, daß – was das Aussprechen irgend eines der gedruckten Wörter betrifft– im Bewußtsein des Schülers, der ‘vorgibt’ ˇes zu lesen das Gleiche stattfinden kann, wie im Bewußtsein des geübten Lesers, der es ‘liest’. Das Wort “lesen” wird anders angewandt, wenn wir vom Anfänger, und wenn wir vom geübten Leser sprechen. ‒ ‒ – 109
– Wir möchten nun freilich
sagen: Was im geübten Lser und
Leser und was im Anfänger vor sich geht, wenn sie das
Wort aussprechen, kann nicht das Gleiche
sein. Und wenn kein Unterschied in dem wäre, was
ihnen gerade bewußt ist, so im unbewußten Arbeiten ihres
Geistes; oder auch im Gehirn. – Wir möchten
also sagen: Hier sind jedenfalls zwei verschiedene
Mechanismen! Und was in ihnen vorgeht, muß Lesen
von Nichtlesen unterscheiden. – Aber diese
Mechanismen sind doch nur Hypothesen; Modelle zur Erklärung,
zur Zusammenfassung dessen, was du
wahrnimmst. |
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