
Denken wir uns folgendes psychologisches Experiment:
Wir zeigen dem Subjekt zwei Linien G
1,
G
2, durch welche quer die Gerade A gezogen
ist.
Das Stü
ck dieser Geraden, welches zwischen
G
1 und G
2 liegt, werde ich die Strecke
a nennen.
Wir z
iehen nun in beliebiger Entfernung von a und
parallel dazu b und fragen, ob er die Strecke b
größer sieht als a, oder die beiden Längen nicht
mehr unterscheidet.
Er antwortet, b erscheine größer als
a.
Darauf nähern wir
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uns a, indem wir die Distanz von
a zu b mit unsern Meßinstrumenten
halbieren und ziehen c.
“Siehst Du c größer als
a?” –
“Ja”.
Wir halbieren die Distanz c–a und ziehen d.
“Siehst Du d größer als
a?” –
“Ja”.
Wir halbieren a–d.
“Siehst Du e größer als
a?” –
“Nein”.
Wir halbieren daher e–d.
“Siehst Du f größer als
e?” –
“Ja”.
Wir halbieren also e–f und ziehen h.
Wir könnten uns so auch von der linken Seite der Strecke a nähern,
und dann sagen, daß einer gesehenen Länge a
im euklidischen Raum nicht
eine Länge, sondern ein Intervall von Längen entspricht,
und in ähnlicher Weise
einer gesehenen Lage eines Strichs
(etwa des Zeigers eines Instruments) ein Intervall von Lagen im
euklidischen Raum: aber dieses
Intervall hat nicht scharfe Grenzen.
Das heißt: es ist nicht von Punkten begrenzt,
sondern von konvergierenden Intervallen, die nicht gegen einen Punkt
konvergieren.
(Wie die Reihe der Dualbrüche, die wir durch Werfen von Kopf und
Adler erzeugen.)
Das Charakteristische zweier Intervalle, die so nicht durch Punkte
sondern
unscharf begrenzt sind, ist, daß
auf die Frage, ob sie einander übergreifen oder getrennt voneinander
liegen, in gewissen Fällen die Antwort lautet:
“unentschieden”.
Und daß die Frage, ob sie einander berühren,
einen En
dpunkt miteinander gemein haben, immer sinnlos ist,
da sie ja keine Endpunkte haben.
Man könnte aber sagen: sie haben
vorläufige
Endpunkte.
In dem Sinne, in welchem die Entwicklung von
π
ein vorläufiges Ende hat.
An dieser Eigenschaft des
‘unscharfen’
Intervalls ist natürlich nichts geheimnisvolles, sondern das
etwas Paradoxe k
lärt sich durch die
doppelte Verwendung des Wortes “Intervall” auf.
Es ist dies der gleiche Fall, wie der der doppelten Verwendung des
Wortes “Schach”, wenn es einmal die Gesamtheit der
jetzt geltenden Schachregeln bedeutet, ein andermal: das Spiel,
welches
N.N. in Persien erfunden hat
und welches sich so und so entwickelt hat.
In einem Fall ist es unsinnig, von einer
Änderung || Entwicklung
der Schachregeln zu reden, im andern Fall
nicht.
Wir können “Länge einer gemessenen Strecke” entweder
das nennen, was bei einer bestimmten Messung, die ich heute um 5 Uhr
durch
führe,
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herauskommt, – dann gibt es für
diese Lä
ngenangabe kein “ ±
etc.”
– oder
etwas, dem sich Messungen nähern
etc.: in den zwei
Fällen wird das Wort “Länge” mit ganz verschiedener
Grammatik gebraucht.
Und ebenso das Wort “Intervall”, wenn ich einmal
etwas Fertiges, einmal etwas sich Entwi
ckelndes
ein Intervall nenne.
I) die Intervalle liegen getrennt
II) sie
liegen getrennt und berühren sich vorläufig
III)
unentschieden
IV)
unentschieden
V) unentschieden
VI) sie
übergreifen
VII) sie übergreifen

Wir können uns aber nicht wundern, daß nun ein
Intervall so seltsame Eigenschaften haben soll: da wir eben das
Wort “Intervall” jetzt in einem nicht gewöhnlichen Sinn
gebrauchen.
Und wir können nicht sagen, wir haben neue Eigenschaften gewisser
Intervalle entdeckt.
Sowenig wie wir neue Eigenschaften des Schachkönigs entdecken
würden, wenn wir die Regeln des Spiels änderten, aber die Bezeichnung
“Schach” und “König”
beibehielten.
(Vergl. dagegen Brouwer, über das Gesetz des ausgeschlossenen
Dritten.)
Jener Versuch ergibt also wesentlich, was wir ein
“unscharfes” Intervall genannt haben; dagegen wären
natürlich andere Experimente
möglich ||
denkbar, die statt dessen ein scharfes Intervall
ergeben.
Denken wir etwa, wir bewegten ein Lineal von der Anfangsstellung
b, und parallel zu dieser, gegen a hin, bis in unserm Subjekt
irgend eine bestimmte Reaktion einträte: dann könnten wir den
Punkt, an dem die Reaktion beginnt, die Grenze unseres Streifens
nennen. –
So könnten wir natürlich auch ein Wägungsresultat “das Gewicht
eines Körpers” nennen und es gäbe dann in diesem Sinn eine
absolut genaue Wägung,
d.i. eine, deren Resultat
nicht die Form “G ± g” hat.
Wir ha
ben
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damit unsere Ausdrucksweise geändert,
und müssen nun sagen, daß das Gewicht des Körpers
schwankt und zwar nach einem uns unbekannten Gesetz.
(
Die Unterscheidung
zwischen “absolut genauer” Wägung und “wesentlich
ungenauer” Wägung ist eine grammatische || Der Unterschied
zwischen “absolut genauer” Wägung und “wesentlich
ungenauer” Wägung ist ein grammatischer und bezieht sich auf
zwei verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks “Ergebnis der
Wägung”.)