Irrtümliche Anwendung unserer physikalischen Ausdrucksweise auf
Sinnesdaten.
“Gegenstände”,
d.h. Dinge,
Körper im Raum des Zimmers – und “Gegenstände” im
Gesichtsfeld; der Schatten eines Körpers an der Wand als
Gegenstand!
Wenn man gefragt wird: “existiert der Kasten noch, wenn
ich ihn nicht anschaue”, so ist die korrekte Antwort:
“ich glaube nicht, daß ihn jemand gerade
dann wegtragen wird, oder zerstören”.
Die Sprachform “ich nehme x wahr” bezieht sich
ursprünglich auf ein Phänomen (als Argument) im physikalischen
Raum (ich meine hier: im “Raum” der
alltäglichen Ausdrucksweise).
Ich kann diese Form daher nicht unbedenklich auf das anwenden, was man
Sinnesdatum nennt, etwa auf ein optisches Nachbild.
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(Vergleiche auch, was wir über die Identifizierung von Körpern, und
anderseits von Farbflecken im Gesichtsfeld gesagt
haben.)
Was es heißt: ich, das Subjekt, stehe dem
Tisch, als Objekt, gegenüber, kann ich leicht verstehen; in welchem Sinne
aber stehe ich meinem optischen Nachbild des Tisches gegenüber?
“Ich kann diese Glasscheibe nicht sehen, aber ich kann sie fühlen”. Kann man sagen: “ich kann das Nachbild nicht sehen, aber …”? Vergleiche: “Ich sehe den Tisch deutlich”; “ich sehe das Nachbild deutlich”. “Ich höre die Musik deutlich”; “ich höre das Ohrensausen deutlich”. Ich sehe den Tisch nicht deutlich, heißt etwa: ich sehe nicht alle Einzelheiten des Tisches; – was aber heißt es: “ich sehe nicht alle Einzelheiten des Nachbildes”, oder: “ich höre nicht alle Einzelheiten des Ohrenklingens”? Könnte man nicht sehr wohl statt “ein Nachbild sehen” sagen: “ein Nachbild haben”? Denn: ein Nachbild “sehen”? im Gegensatz wozu? – “Wenn Du mich auf den Kopf schlägst, sehe ich Kreise”. – “Sind es genaue Kreise, hast Du sie gemessen?” (Oder: “sind es gewiß Kreise, oder täuscht Dich Dein Augenmaß?”) – Was heißt es nun, wenn man sagt: “wir können nie einen genauen Kreis sehen”? Soll das eine Erfahrungstatsache sein, oder die Konstatierung einer logischen Unmöglichkeit? – Wenn das letztere, so heißt es also, daß es keinen Sinn hat, vom Sehen eines genauen Kreises zu reden. Nun, das kommt drauf an, wie man das Wort gebrauchen will. “Genauer Kreis” im Gegensatz zu einem Gesichtsbild, das wir eine sehr kreisähnliche Ellipse nennen würden, kann man doch gewiß sagen. Das Gesichtsbild ist ein genauer Kreis || Das Gesichtsbild ist dann ein genauer Kreis, welches uns wirklich, wie wir sagen würden, 440 kreisförmig erscheint und nicht
vielleicht nur sehr ähnlich einem Kreis ||
Kreise.
Ist anderseits von einem Gegenstand der Messung die Rede, so gibt es
wieder verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks “genauer
Kreis”, je nach dem Erfahrungskriterium, welches ich dafür
bestimme, daß der Gegenstand genau kreisförmig
ist. || je nach dem Erfahrungskriterium, das
ich für die genaue Kreisförmigkeit des Gegenstandes bestimme.
Wenn ich nun sage || wir nun
sagen: “keine Messung ist absolut
genau”, so erinnern wir hier an einen Zug in der Grammatik der
Angabe von Messungsresultaten.
Denn sonst könnte uns Einer sehr wohl antworten: “wie
weißt Du das, hast Du alle Messungen
untersucht?” –
“Man kann nie einen genauen Kreis sehen” kann die
Hypothese sein, daß genauere Messung
eines kreisförmig aussehenden Gegenstandes immer zu dem Resultat führen
wird, daß der Gegenstand von der Kreisform
abweicht. –
Der Satz “man kann ein 100-Eck nicht von einem Kreis
unterscheiden” hat nur Sinn, wenn man die beiden auf irgend
eine Weise unterscheiden kann, und sagen will, man könne
sie, etwa visuell, nicht unterscheiden.
Wäre keine Methode der Unterscheidung vorgesehen, so hätte es also
keinen Sinn, zu sagen, daß diese zwei Figuren
(zwar) gleich aussehen, aber “in
Wirklichkeit” || “tatsächlich” verschieden
sind.
Und jener Satz wäre dann etwa die Definition 100-Eck =
Kreis.
Ist in irgendeinem Sinne ein genauer Kreis im Gesichtsfeld undenkbar, dann muß der Satz “ich sehe nie einen genauen Kreis im Gesichtsfeld” von der Art des Satzes sein: “ich sehe nie ein hohes C im Gesichtsfeld”. || , dann muß der Satz “im Gesichtsfeld ist nie ein genauer Kreis” von der Art des Satzes sein: “im Gesichtsfeld ist nie ein hohes C.” |
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